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Adventskampagne 2024: Armut schadet der mentalen Gesundheit

Einblicke in die Zusammenhänge zwischen Prekarität und psychischer Gesundheit

Vorstellung der Studie von Action Vivre Ensemble : hier zum herunterladen : Dokumente zur Adventsaktion – Miteinander Teilen

Unsere Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der es nicht erlaubt ist, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das neoliberale Modell führt dazu, dass unser Leben immer von der Idee der Leistung geprägt ist. Wenn man an psychischen Problemen leidet, wird man sehr schnell von dieser Gesellschaft stigmatisiert und die Schwierigkeiten, die eine Person haben kann, werden als individuelles Problem angesehen. Wenn das Problem nicht als kollektives Problem betrachtet wird, ist es sehr schwierig, sich davon zu lösen. Depressionen sind weltweit die häufigste Ursache für Behinderungen und 350 Millionen Menschen sind davon betroffen. Wenn man dazu noch ungleiche Startvoraussetzungen hinzufügt, wird es noch komplizierter.

Unsere Studie zeigt starke Verbindungen zwischen prekären Lebensumständen und psychischer Gesundheit auf. Es  stellt sich die Frage, ob Armut die Krankheit verursacht oder ob psychische Probleme die Situation verstärken. Denn in  prekären Situationen leidet nicht nur der Körper, sondern auch der Geist.

DIE SOZIALEN FAKTOREN

Es handelt sich hier um jene sozioökonomische Faktoren, die unsere Gesundheit maßgeblich beeinflussen. 

Ein bedeutender Einflussfaktor ist dabei – wenig überraschend – das Wohnen. Die Wohnverhältnisse haben sowohl auf die physische als auch auf die psychische Gesundheit weitreichende Auswirkungen. So können ungesunde Wohnbedingungen Atemwegserkrankungen und Infektionskrankheiten begünstigen. Auch die psychische Gesundheit leidet, wenn Menschen von Wohnungslosigkeit bedroht sind, kurz vor einer Zwangsräumung stehen oder mit Wuchermieten konfrontiert sind – Situationen, die häufig zu erheblichem Stress und Angst führen. 

Wer in Armut lebt, ist meist auf günstige, oft qualitativ minderwertige Wohnungen angewiesen. Diese sind häufig schlecht isoliert, in einem mangelhaften Zustand, liegen in vernachlässigten Stadteilen und habe nur begrenzten Zugang zu Grünflächen. Zusätzlich sind diese Wohngebiete oft stärker von Lärm und Umweltverschmutzung betroffen. Auch das soziale Umfeld trägt maßgeblich dazu bei, wie sich die Lebensumstände auf die Gesundheit auswirken; so ist das Risiko für Erkrankungen deutlich höher, wenn eine Person in Armut lebt und keinen Zugang zu besseren Wohnmöglichkeiten hat. 

Ebenso wirkt das Bildungsniveau sich stark auf die Gesundheit der Menschen aus. Personen mit höherer Bildung verfügen in der Regel über eine bessere Gesundheitskompetenz. Sie verstehen medizinische Zusammenhänge leichter, wissen, wie sie das Gesundheitssystem effektiv nutzen können, und sind oft besser in der Lage, sich um ihre eigene Gesundheit zu kümmern und diesbezüglich Entscheidungen zu treffen.  

Ein weiterer wichtiger sozialer Faktor ist das Geschlecht. Frauen tragen oft die Hauptverantwortung für administrative und organisatorische Aufgaben in Familie und Gesellschaft; sie sind dem Druck der “mentalen Last” am meisten ausgesetzt, die in vielen Fällen erheblichen Stress mit sich bringt und ihre psychische Gesundheit belastet. 

Eine besonders gefährdete Bevölkerungsgruppe sind Migrantinnen. Sie sind oft an der Schnittstelle verschiedener Diskriminierungen benachteiligt – sei es aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder der Erfahrung von Migration. Zudem haben viele von ihnen eine traumatisierende Flucht hinter sich, die häufig mit sexueller Gewalt verbunden ist und nicht selten zu posttraumatischen Belastungsstörungen führt, die oft nur unzureichend erkannt und behandelt werden.  

SOZIALE AUSGRENZUNG

Ein weiterer Aspekt, den wir im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit untersuchen, ist das Risiko  sozialer Ausgrenzung. Dieses Risiko verschlimmert sich, wenn Menschen isoliert sind und keine soziale Bindungen mehr haben. Soziale Bindung ist von grundlegender Bedeutung, denn der Mensch lebt nicht isoliert, sondern in einem sozialen Umfeld und ist auf Anerkennung angewiesen. Fehlt diese Anerkennung, droht eine Entfremdung von der Gesellschaft sowie von nahestehenden Personen. Diese Form der Ausgrenzung führt oft zu einem selbstgewählten Rückzug, der in einem Umfeld der Ablehnung oft als einzige Möglichkeit erscheint. Da das soziale Netzwerk unseren psychischen Zustand beeinflusst, erhöht das Gefühl von Isolation, Ablehnung und außen vor zu sein das Risiko psychischer Erkrankungen. Um dieser Ausgrenzung entgegenzuwirken setzt sich die Organisation ASBL Revers  in Lüttich für  Wiedereingliederung von Menschen mit psychischen  Erkrankungen ein.  Durch kulturelle und künstlerische Aktivitäten werden neue soziale Kontakte ermöglicht, die den Teilnehmenden nicht nur die Möglichkeit bieten, andere Menschen kennenzulernen, sondern auch das Vertrauen in sich selbst und die eigenen Fähigkeiten zu stärken.  

ZUGANG ZUR GESUNDHEITSVERSORGUNG

Im Jahr 2022 verzichtete in Wallonien und Brüssel mehr als jede dritte Person auf medizinische Versorgung, entweder aus finanziellen Gründen oder wegen komplizierten Verfahren. Gerade für Menschen mit psychischen Belastungen kann schon der kleinste Schritt unüberwindbar erscheinen. Hinzu kommen häufig Sprachbarrieren und besonders, die digitale Kluft. Seit der Covid-Pandemie  wurden viele öffentliche Dienstleistungen digitalisiert. Was den Zugang für einige erleichtert hat, aber gleichzeitig die Zahl derer erhöht, die von diesen Diensten ausgeschlossen sind und ihr Recht auf medizinische Versorgung nicht wahrnehmen. Die komplexe Struktur unseres Landes, insbesondere die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Regierungsebenen, schafft weitere Hürden im Zugang zur Gesundheitsversorgung und verstärkt die Schwierigkeiten vieler Menschen, angemessene Unterstützung zu erhalten. 

DIE JUGEND

Kinder sind angesichts sozialer Ungleichheiten besonders verwundbar, da sie weder Kontrolle über ihre Lebensumstände noch über das, was das Leben ihnen bringt, haben. Die Weichen für ihren Lebensweg werden bereits in den ersten Lebensjahren gestellt, die sowohl für die geistige als auch für die körperliche Gesundheit von entscheidender Bedeutung sind. Diese frühe Kindheit ist eine prägende Phase, in der Erlebnisse und Umstände das ganze Leben nachhaltig beeinflussen können. 

Wie bei Erwachsenen können auch bei Kindern Umweltfaktoren die Entwicklung psychischer Störungen begünstigen. Neben genetischen Einflüssen, die eine psychische Anfälligkeit weitergeben können, spielen traumatische Ereignisse eine zentrale Rolle. Solche Erlebnisse können sowohl die Gehirnentwicklung als auch die Stressbewältigung nachhaltig beeinflussen. 

Um Ungleichheiten effektiv zu bekämpfen, ist es daher entscheidend, so früh wie möglich anzusetzen. Dies betonte auch Bernard de Vos, der von 2008 bis 2023 als Generaldelegierter für die Rechte des Kindes tätig war. 

DIE UNGLEICHHEITEN ANGEHEN

Die Bekämpfung von Ungleichheiten ist ein zentrales Ergebnis dieser Studie. Die Feststellungen und Forderungen, die wir daraus ableiten, können Sie ebenfalls in unserem ausführlichen Bericht nachlesen. 

  • Psychische Gesundheit ist eng mit den Lebensbedingungen verbunden – deshalb muss frühzeitig angesetzt werden, indem man gezielt an den Ursachen von Ungleichheiten arbeitet. Gesundheit ist schließlich nicht nur eine Frage des Zufalls. 
  • Ein ganzheitlicher und sektorübergreifender Ansatz ist für die Förderung der psychischen Gesundheit unerlässlich. Die institutionelle Komplexität und die mit den verschiedenen Staatsreformen einhergehende Aufteilung der Zuständigkeiten schaffen jedoch zusätzliche Hürden für den Zugang zur Gesundheitsversorgung. 
  • Ein umfassender Ansatz erfordert, dass Maßnahmen zur Förderung und Prävention im Vordergrund stehen, um frühzeitig und präventiv zu wirken. Ein wichtiger Beitrag hierzu ist die „Woche der psychischen Gesundheit“, die Crésam jährlich im Oktober organisiert, um das Bewusstsein für psychische Erkrankungen zu stärken. 
  • Psychische Gesundheit benötigt ausreichende finanzielle Mittel, um die Betreuung und Versorgung der Betroffenen zu verbessern und auf die spezifischen Bedürfnisse vor Ort einzugehen. 

Unsere Gesellschaft neigt dazu, psychische Gesundheit als rein persönliche Verantwortung anzusehen. Tatsächlich aber wird sie maßgeblich durch sozioökonomische Faktoren beeinflusst, die oft außerhalb der eigenen Kontrolle liegen, wie etwa ungleiche Startbedingungen im Leben. Eine der größten Herausforderungen besteht darin, psychische Gesundheit als kollektives Anliegen anzuerkennen – und nicht als rein individuelles Problem. 

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